BundesligaMeistersaison löst bei Bayer 04 Leverkusen nie gekannte Euphorie aus

Lesezeit 4 Minuten
In ein Menschenmeer verwandelt sich der Rasen der BayArena nach dem entscheidenden 5:0-Heimsieg gegen Werder Bremen.

In ein Menschenmeer verwandelt sich der Rasen der BayArena nach dem entscheidenden 5:0-Heimsieg gegen Werder Bremen.

Für Bayer 04 Leverkusen hat das lange Warten ein Ende: Nach zwei Jahrzehnten führte der Klub die Tabelle an und feierte seine erste Meisterschaft in 120 Jahren.

Der wohl beste Fußballsong der Geschichte handelt von Schmerz – und von Hoffnung. In „Footballs Coming Home“, das zur EM 1996 in England veröffentlicht wurde, sangen die Komiker David Baddiel und Frank Skinner mit den Lightning Seeds von „Thirty years of hurt“, 30 Jahren Schmerz, die trotzdem den Glauben an den ersten Titel der „Three Lions“ seit 1966 nicht zerstören konnten. Bei Bayer Leverkusen dauerte der Schmerz immerhin 24 Jahre – und er begann nicht mit einem Triumph, sondern einer bitteren Niederlage. Der Stachel von damals, das gibt Marc Jansen zu, „der sitzt bis heute. Das hat tiefe Narben hinterlassen“.

Damals ist fast ein Vierteljahrhundert her: Samstag, 20. Mai 2000, Sportpark Unterhaching. Bayer reist am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 1999/2000 als Tabellenführer zum Aufsteiger aus Oberbayern, mit drei Punkten Vorsprung vor dem FC Bayern. Die Bayer-Elf von Trainer Christoph Daum hat zuvor die schweren Auswärtsspiele bei Werder Bremen und dem HSV gewonnen, ebenso die Heimpartie gegen Frankfurt. Auch wenn die Hachinger heimstark sind: „Wir waren euphorisiert und sicher, dass wir das holen“, erinnert sich Jansen, gebürtiger Leverkusener und seit 1987 Fan der Werkself.

Leverkusener in „Schockstarre“

Mit einigen Freunden hat der damals 24-Jährige schon am Freitag in München vorgefeiert, doch am Spieltag ist das Gefühl ein anderes: „Wir saßen vor dem Spiel in einem Biergarten am Stadion, und plötzlich hatte ich die Hosen voll“, berichtet Jansen. Offenbar nicht nur er – auch die Bayer-Profis um Jens Nowotny, Emerson, Michael Ballack und Ulf Kirsten machen auf dem Rasen einen lethargischen, mutlosen Eindruck. Von Werder, das parallel im Olympiastadion bei den Bayern antritt, ist keine Schützenhilfe zu erwarten: Schon nach einer Viertelstunde führt München mit 3:0.

14 Kilometer weiter südöstlich dauert es 20 Minuten bis zum ersten Treffer: Ballack will eine Hachinger Hereingabe klären und fälscht den Ball unhaltbar für Keeper Adam Matysek ins eigene Netz ab. Die rund 2000 Leverkusener unter den 11 300 Zuschauern verfallen in „Schockstarre“, so schildert es Jansen. „Dabei war noch nichts passiert. Ein Unentschieden hätte ja gereicht.“

Doch für Bayer läuft weiterhin wenig zusammen, die Stimmung im Fanblock wird immer verzweifelter. „Ich habe früh Tränen gesehen“, erinnert sich Jansen. „Spätestens nach dem zweiten Treffer von Markus Oberleitner.“ Der fällt in der 72. Minute, und Leverkusen endgültig in sich zusammen. Die Schale recken die Münchner gen Himmel. In Haching wird das Bild von Trainer Christoph Daum, der seinen Sohn Marcel tröstend in die Arme schließt, zum Sinnbild der Leverkusener Hölle. Jansen und seine Freunde steigen in den Sonderzug, der den Bayer-Anhang zurück ins Rheinland bringt. Der Klub hat palettenweise Dosenbier in die Abteile geschafft, um den Titel zu begießen − nun werden die Getränke zur Frustbewältigung genutzt. „Anders war das nicht zu ertragen“, sagt Jansen.

Boom bei den Mitgliederzahlen

Als die Werkself 2002 erneut Vizemeister wird, dazu die Endspiele im Pokal sowie in der Champions League verliert und zu Vizekusen mutiert, reißen die kaum verheilten Narben wieder auf. „Es war mein Kindheitstraum, einmal diese verdammte Schale zu holen“, sagt Jansen, der seit 2005 für den Klub arbeitet und inzwischen den Bereich für die mehr als 54 000 Mitglieder leitet. „So geht es vielen Leuten. Es haben einige Ältere sogar im Management angerufen und gefleht, dass sie es noch erleben wollen, dass Bayer Meister wird.“

Am Sonntag wird das Flehen erhört: Zehntausende feiern ausgelassen die erste Meisterschaft der 120-jährigen Clubgeschichte. Darunter Marcel Daum, inzwischen Co-Trainer Spielanalyse bei Bayer 04. Anders als 1999/2000, als sich in der Fremde oft nur wenige Leverkusen-Fans auf den Rängen verlieren, hat die Meistersaison rund um das Bayer-Kreuz eine nie gekannte Euphorie ausgelöst: Wer eine Dauerkarte will, muss erstmals auf eine Warteliste, bei allen Auswärtsspielen der Saison rief Leverkusen die kompletten Ticketkontingente ab, und so viele Trikots wie heuer verkaufte der Klub auch noch nie. „In Unterhaching haben wir Frusttränen geweint, jetzt sind es Freudentränen. Das war so schön, mein Kindheitstraum ist in Erfüllung gegangen“, sagt Jansen

Rundschau abonnieren